Mit dem Nachtzug von Berlin nach Moskau
Zwei Stunden und 45 Minuten dauert die Reise von Berlin nach Moskau mit dem Flieger – oder 20 Stunden und 35 Minuten mit dem Euronight 441, dem Nachtzug, den die Russische Eisenbahngesellschaft RZD seit Dezember 2016 auf der Strecke betreibt. Eine lange, teure und überraschend unromantische Reise – die eindrucksvoller nicht sein könnte.
von Maria Menzel
Dobro pozhalovat’!
18.40 Uhr, Berlin Ostbahnhof. „Herzlich willkommen“ heißt Vladimir Popkov seine Gäste. Eigentlich ist er Flugbegleiter. Seit kurzem aber fährt er als Nachtzugschaffner mit dem „Strizh“, dem „Mauersegler“, zweimal pro Woche von Moskau nach Berlin und zurück, statt um die Welt zu fliegen. Um mehr Zeit mit der Familie zu haben, sagt er.
Der 30-Jährige ist neben dem Zugchef, einem Zugtechniker und drei Restaurant-Angestellten einer von zwölf Schaffnern, die die Gäste auf der Fahrt von Berlin Ostbahnhof nach Moskau begleiten. Die erste Aufgabe: sie in ihre Kabinen einzuweisen.
1.896 Kilometer ...
... und elf Stops liegen zwischen Berlin Ostbahnhof und dem Kursker Bahnhof in Moskau, der Endstation dieser Reise. 20 Stunden und 35 Minuten; in entgegengesetzter Richtung geht es 20 Minuten schneller. Für die Russen ist das ein Witz, die Reise zur Großmutter nicht selten länger und vor allem beschwerlicher. Für die Deutschen hingegen ist es ein Abenteuer
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weil es in Deutschland keine Schlafzüge mehr gibt.
2016 hat die Deutsche Bahn ihr gesamtes Nachtzuggeschäft eingestellt – während andere Bahngesellschaften ihres derzeit ausbauen. So wie die Russische Eisenbahn (RZD), die die Strecke Berlin-Moskau mit neuen Schlafzügen des spanischen Herstellers Talgo betreibt. Züge, die man in Deutschland kennt, weil sie von 1994 bis 2009 auch auf hiesigen Schienen von Berlin nach Bonn und von Hamburg nach München rollten. Vor acht Jahren wurden die Schlafwagen abgeschafft, weil sich der innerdeutsche Betrieb im Konkurrenzkampf mit Flug- und ICE-Verbindungen nicht mehr lohnte
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zu langsam, zu teuer.
Herz- und Lungenzentrum
Zwei Maschinenwagen versorgen die 18 Passagierwaggons des Euronight 441 mit Elektrizität, Wasser und klimatisierter Luft. Gezogen wird das Schlafwagengespann von einer Diesellok – mit bis zu 200 Kilometern pro Stunde.
Immer mit dabei: Ein Bordtechniker, der Wasserdruck, Generatoren und Klimaanlage während der Fahrt über ein Kontrollzentrum im Maschinenwagen überwacht – und im Notfall auch raus aus dem Anzug und rein in die Kälte muss, um einen Schaden außen am Zug zu reparieren.
Nacht ohne Ruhe
22.00 Uhr, kurz hinter Poznan. Die deutsch-polnische Grenze hat der Mauersegler bereits passiert.
Draußen ist es dunkel geworden, Berlin erst gut 300 Kilometer und doch schon so viel weiter weg. Die Passagiere ziehen sich in ihre Kabinen zurück. Der Geruch von Kunststoff, Bodenbelag und Schlaf macht sich in der Stille breit. Nur das gleichmäßige Rattern der Räder klingt in den Gängen nach und wiegt die Fahrgäste in den Schlaf
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einen kurzen.
Nächster Halt: Warschau!
00.08 Uhr, Warschau Zachodnia. Weißgelbes Licht dringt durch die Gardine der Schlafkabine. Der Zug kommt zum Stehen – Zwischenstopp Warschau Zachodnia. Hier steigen die ersten Passagiere aus. Vladimir postiert sich auf dem Bahnsteig, um sie zu verabschieden, begrüßt die zusteigenden Gäste. Zwei oder drei sind es vielleicht. Eine Handvoll Passagiere nutzt den Zwischenstopp als Raucherpause.
Im Pyjama über die Grenze
Im Pyjama über die Grenze
2.13 Uhr, Terespol. Es klopft an der Kabinentür. Vladimir kündigt den polnischen Zoll an, lässt die Tür einen Spalt weit offen stehen und zieht weiter zur nächsten Kabine. Fünf Minuten lang passiert nichts. Unter der Bettdecke ist es schön warm. Die Augenlider werden schwerer und schwerer – und schnellen auf, als ein Zollbeamter die Tür mit einer Taschenlampe unsanft aufstößt und sie gegen die Kunststoffverkleidung der Kabine schlägt.
Er schaut sich um, schaut an die Wände, auf den Boden, unter die Betten, hinter die Tür, in große müde Augen, geht wieder, lässt die Tür offen stehen. Kein Hallo, kein Tschüss, kein Wort. Irgendwann wird klar, dass niemand mehr kommt. Die Augen fallen zu.
Es kann nicht viel Zeit vergangen sein, als es wieder an der Tür klopft. Vladimir kündigt die weißrussischen Grenzbeamten an und bittet, den Reisepass, das weißrussische Transit-Visum und das russische Visum bereitzuhalten, überreicht eine Einreise- und Ausreisekarte. „Bitte ausfüllen!“ Er lässt die Tür einen Spalt weit offen stehen, geht weiter. Zehn Minuten lang passiert nichts. Unter der Bettdecke ist es gemütlich. Die Augenlider werden schwerer und schwerer.
Plötzlich steht eine weißrussische Grenzbeamtin im Türrahmen, greift hoch aufs Bett nach dem Pass. Schaut den Pass an, dann das Foto, dann ins Gesicht. Sie schaut nicht böse, aber zu sachlich, um nett zu sein. Schön aufrecht im Bett sitzen. Sie schaut nochmal, dann geht sie ohne ein Wort –
und nimmt den Pass mit.
Zehn Minuten lang passiert nichts. Kopf und Augen sind hellwach: Ob man den Pass je wiedersehen wird? Der Zug wird langsamer, die Gäste schauen aus den Kabinen heraus den Flur entlang – nach links, nach rechts. Niemand. Kurz vor dem Halten kommt die weißrussische Grenzbeamtin, übergibt die Pässe,
sagt kein Wort,
geht wieder, lässt die Tür offen stehen. Irgendwann ist klar: Das war es. Willkommen in Weißrussland!
Spurwechsel
Kurz nach 4 Uhr, kurz vor Brest. Hinter der polnisch-weißrussischen Grenze wird die Uhr umgestellt – eine Stunde vor. Umgestellt werden auch die Fahrwerke von den 1435 Millimeter weit auseinanderliegenden europäischen Schienen auf das russische Schienensystem, bei dem die Gleise 1520 Millimeter weiter auseinanderliegen.
Früher mussten die Passagiere dafür aussteigen und zwei Stunden in der Bahnhofshalle warten, bis die Waggons mit Kränen von den europäischen Fahrwerken herunter und auf russische hinaufgehoben worden waren. Heute verschlafen die meisten das Spektakel, das keines mehr ist. Mit gedrosselter Geschwindigkeit und gelösten Rädern fährt der Zug langsam über eine Umspurungsanlage, die die Räder weiter auseinanderschiebt. Anschließend werden sie wieder arretiert, der Zug nimmt Geschwindigkeit auf.
Foto: FPC AG
Borschtsch ist aus
09.20 Uhr, Speisewagen. Es ist Frühstückszeit
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und das Restaurant wie immer fast leer. Die russischen Gäste auf Heimatbesuch haben sich ihr Essen selbst mitgebracht oder bestellen es als Takeaway in die Kabine. Ein gesetztes Essen gönnen sich nur die Freizeitreisenden.
Es gibt Haferflocken mit Früchten und Nüssen für 4,20 Euro, Käse-Schinken-Omelette für 5,90 Euro oder Pancakes mit Marmelade, Honig oder Sour Cream für 3,90 Euro. Auf der Mittags- und Abendkarte stehen Tagliatelle mit Knoblauch und Öl für 4,20 Euro, gegrilltes Gemüse mit Pesto für 5,90 Euro und Borschtsch, die russische Rote-Beete-Suppe, die heute leider aus ist, wie der Kellner durch ein Handzeichen erklärt. Wie das Gros des Zugpersonals spricht er kein Wort Englisch, die nicht-russischen Gäste kein Wort russisch.
Hubert fährt lieber Nachtzug, als in ein Flugzeug zu steigen
Hubert fährt lieber Nachtzug, als in ein Flugzeug zu steigen
Hubert Kleinlauth bestellt grünen Tee und Omelette. Für
den 84-Jährigen geht mit dieser Reise ein Traum in Erfüllung
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weniger der Traum einer langen Zugreise, vielmehr der Traum einer Reise nach Moskau. Dass er die mit dem „Strizh“ macht, hat einen einfachen Grund: Flugangst.
„So wirklich gemütlich und schön ist es ehrlich gesagt nicht“, sagt der Unternehmer, der mehrmals im Jahr von seiner Heimat Saarbrücken aus mit dem TGV nach Paris fährt
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das sei komfortables Reisen. So spannend wie das hier sei es allerdings nicht.
Hubert Kleinlauth schaut durch das Fenster auf die vorbeiziehende Landschaft
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auf Wellblechdächer
und Holzverschläge, auf halbfertige und halbfertig aussehende Häuser, auf Birkenwälder und Wiesen und Steppen. „Ist doch unglaublich, dass das hier alles so ungenutzt brach liegt“, sagt er, ein bisschen erschrocken, ein bisschen fasziniert.
Kleinlauth nimmt den letzten Happen vom Omelette und schiebt den Teller ein Stückchen von sich weg. „Macht satt“, sagt er lächelnd, lehnt sich zurück und schaut weiter aus dem Fenster.
„So viel anders war die Fahrt damals gar nicht“
„So viel anders war die Fahrt damals gar nicht“
„Für uns ist es ein Abenteuer“, sagt Otto Verberne aus Leiden in den Niederlanden. Gemeinsam mit seiner Frau Martina hat der 66-Jährige diese Reise vor 40 Jahren schon einmal gemacht, damals noch mit dem alten Zug – sie damals hochschwanger mit dem gemeinsamen Sohn.
„So viel anders war es damals gar nicht“, sagt Martina, „auch wenn der Zug heute etwas moderner ist.“ Ein bisschen länger habe die Reise wegen des Umhebens der Waggons auf andere Fahrgestelle gedauert
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knapp 26 Stunden. Dusche und Toilette habe es damals selbst in der Deluxe-Klasse nicht gegeben. Und kein WLAN natürlich.
Für die beiden ist die Fahrt von Berlin nach Moskau nur ein Abschnitt einer fünfwöchigen Zugreise bis nach Wladiwostok, in den südöstlichsten Zipfel Russlands. „Wir wollten sehen, wie sich die Landschaft verändert, die Häuser, die Infrastruktur“, sagt Otto Verberne. Im Flieger entgehe einem all das. Da steige man in einer Großstadt ein und in einer anderen wieder aus. „Alles, was dazwischenliegt, bleibe auf der Strecke.“
USB-„Strizh“ als Andenken
15.25 Uhr, irgendwo zwischen Smolensk und Moskau. Zwei Schaffner schieben einen Service-Trolley durch die schmalen Gänge des Zugs
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18 Waggons weit. „Souvenirs?“ Es gibt Kuscheltiere, Kindermalhefte, Plastikuhren mit bunten Blumen- und Leopardenmuster und einen USB-Stick in „Strizh“-Form für 11 Euro.
Der Kopf braucht länger zum Aussteigen
16.25 Uhr, Moskau. In Schrittgeschwindigkeit fährt der „Strizh“ in den Kursker Bahnhof ein, kommt zum Stehen. Die Schaffner postieren sich neben den Ausgängen, verabschieden die Gäste, die ihre Koffer
über den Bahnsteig in das trubelige Moskau hinausziehen
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in eine andere Realität, die mit den vergangenen Stunden nichts mehr zu tun hat.
Dann holt das Personal sein Gepäck und zieht von dannen, lässt
den „Mauersegler“ auf dem Gleis zurück.
Irgendwie geht auf einmal alles ein bisschen zu schnell hier in Moskau. Wie nach einem Film, dessen Ende viele Fragen offen und den Zuschauer ein wenig ratlos zurücklässt.
Der Kopf braucht länger zum Aussteigen als der Körper.
Was nun anfangen mit den Eindrücken der vergangenen 20 Stunden und 35 Minuten?
Noch ein bisschen auf dem Bahnsteig verweilen, dem Zug, der Reise hinterherschauen. Man müsste sie ein zweites Mal machen
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mit allen An- und Unannehmlichkeiten die dazugehören. Nur eines müsste
dann anders sein: Beim zweiten Mal würde man aussteigen an den Stationen, an jeder einzelnen
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um die Welten, die zwischen Berlin und Moskau liegen, vielleicht ein bisschen besser zu verstehen.