Schottlands Gin Der Geist aus der Flasche
Schottland war seit jeher das Eldorado des Whiskys – bis ein Klarer kam und der Kultspirituose, wegen der Menschen aus aller Welt ursprünglich in die raue schöne Landschaft gekommen waren, Konkurrenz zu machen begann: der Gin.
Mittlerweile vergeht kaum ein Monat, ohne dass eine neue Marke „made in Scotland“ auf den Markt gespült wird. Die Stars der Szene? Die Craft-Destillerien. Der reisereporter hat bei der Ernte zugesehen.
von Maria Menzel
Eine Arznei gegen Nierensteine und Koliken
Eine Arznei gegen Nierensteine und Koliken
Erstmals hergestellt wurde Gin vermutlich im 17. Jahrhundert – damals allerdings nicht als Genussmittel, sondern als Arznei. „Genever“ oder „Jenever“ (niederländisch für Wacholder) hieß das Destillat, mit dem ein Arzt in den Niederlanden Magen- und Nierenerkrankungen zu heilen versuchte. Seine Wirkung: berauschend. Im wörtlichen Sinne. Schnell wurde „Genever“ zum Dauerbrenner in der Bevölkerung.
Nach Großbritannien gelangte der Branntwein durch britische Soldaten, die Holland im holländisch-spanischen Krieg bis 1648 unterstützt hatten. Dort erhielt er den Namen Gin – und erfreute sich Anfang des 18. Jahrhunderts so großer Beliebtheit, dass 1736 der „Gin Act“ erlassen wurde, der Produktion und Verkauf ohne Lizenz untersagte.
Der Erfolg: mäßig. Um 1740 konsumierte jeder Engländer durchschnittlich einen halben Liter Gin – pro Tag. Erst Ende der 60er-Jahre, als schlechte Ernteerträge den Getreidepreis für den Basis-Fusel in die Höhe trieben, kehrte gezwungenermaßen Vernunft ein. Der Hype war überstanden.
Jonathan Engels „Crafted“ und „local“
Mehr als die Hälfte der schottischen Gins, schätzt Gin-Society-Gründer Stephen White, sind „crafted“, also handgemacht. Ihr Vorteil gegenüber den Großindustriellen: dass ständig mit neuen Zutaten experimentiert wird – vor allem mit heimischen.
„Crafted“
und „local“, das trifft den schottischen Nerv.
Auch Jonathan Engels hat eine kleine, sehr erfolgreiche Destillerie. Der Wacholder und die Hagebutten, mit denen er seinen Gin herstellt: echte Schotten. Selbst geerntet, versteht sich.
Wo der Wacholder wächst
Wacholder ist ein zähes Gewächs – dunkelgrüne Büsche mit Beeren und pikenden Nadeln, die mehr als 200 Jahre alt werden können und fast überall zwischen null und 1.000 Metern über dem Meeresspiegel, auf maritimem wie Heideland, in Wäldern wie Bergregionen wachsen. Auch nahrungsarme Böden machen ihm nichts aus.
Im Destillateur-Paradies Schottland wächst Wacholder an vielen verschiedenen Orten – darunter im Cairngorms-Nationalpark, dem mit 4.500 Quadratkilometern Fläche größten Nationalpark Großbritanniens, aus dem auch Jonathan Engels den Wacholder für seine Gin-Produktion bezieht.
Support aus Übersee
Jedes Jahr im September und Oktober fährt Jonathan Engels in den Cairngorms-Nationalpark, um dort Wacholder und Hagebutten für seinen Gin zu ernten – allerdings nicht allein. Als Craft-Destillateur ist er auf Hilfe angewiesen – die sich leicht findet. Der Lohn: Ein Einblick in Jonathans Arbeit und sein Wissen.
In diesem Jahr hat er drei Erntehelfer – zwei davon sind extra aus Amerika angereist, um etwas über die Gin-Produktion in Schottland zu lernen.
23.000 Flaschen Gin
„Sieht ganz gut aus in diesem Jahr“, sagt Jonathan und schaut auf die blauen und grünen Plastiksäcke mit den dunkelblauen und grünen Beeren und Nadeln, dazwischen rot leuchtende Hagebutten.
Diesmal stimmt alles: Richtiges Timing, der Wacholder ist reif und noch nicht abgefressen von den Rehen, die Helfer motiviert. Die Ausbeute ist reichhaltig in diesem Jahr – und Jonathan zuversichtlich, dass er in seiner Gin-Destillerie und Schule in Glasgow mit rund 23.000 Flaschen in diesem Jahr fast doppelt so viel Gin produzieren kann wie 2016.
Man nehme...
Eigentlich ist nicht viel dran an so einem Gin. Die Basis: Ethylalkohol, meistens hergestellt aus Getreide. Der Wacholder verleiht der neutralen Spirituose dann den typischen Gin-Geschmack. Alkoholgehalt laut EU-Verordnung: mindestens 37,5 Prozent.
Und dann kommt das, was den einen vom anderen Gin unterscheidet: Botanicals in allen erdenklichen Kombinationen – zur Freude von Produzenten und Konsumenten, die ständig Neues probieren können. Die Palette reicht von Orange und Zitrone über Lavendel und Rosmarin bis zu Anis und Bohnenkraut – und weit darüber hinaus. Alles ist möglich.
Für seinen Crossbill Gin (benannt nach einem Vogel, der in schottischen Kiefernwäldern heimisch ist) verwendet Jonathan Engels verschiedene Arten von Hagebutten aus dem Cairngorms-Nationalpark. Manchmal verwertet er beim Destillieren auch die Wacholdernadeln.
Gin! Gin!
Und dann beginnt der schönste, vielleicht aber auch der schwierigste Teil der Gin-Arie: das Konsumieren. Früher war das einfacher. Da bestellte man einen Gin Tonic – und bekam einen Gin Tonic.
Heute ist Gin nicht mehr gleich Gin. Und Tonic nicht gleich Tonic. Heute wählt man – zwischen 20, 30 oder auch 70 Sorten Gin, zehn bis 20 Sorten Tonic und einer adäquaten Deko. In manchen schottischen Bars wird das Menü so oft überarbeitet, dass selbst ambitionierte Gin-Kenner den Barkeeper um Rat bitten müssen.
Ein Falsch oder Richtig gibt es dabei allerdings kaum. Denn bei aller Fachsimpelei bleibt am Ende nur das Probieren. Anders gesagt: Hauptsache, es schmeckt!
Für Wissenshungrige
The Hatchery Laboratory & Gin School, Glasgow
In einem eintägigen Kurs weiht „Crossbill Gin“-Erfinder Jonathan Engels in die Geheimnisse der Gin-Produktion ein. Auf Anfrage dürfen Freiwillige auch mit zur Wacholder-Ernte in den Cairngorms-Nationalpark.
Pixel Spirits Gin School, Ballachulish
Eine Gin-Destillery direkt in den Highlands betreibt Pixel Spirits – ebenfalls mit eigener Akademie und der Möglichkeit, eine selbstdestillierte Flasche Gin mit nach Hause zu nehmen.
„Gin Festival Edinburgh“
Gin-Festivals, bei denen man in die Szene eintauchen kann, gibt es mittlerweile unzählige in Schottland. Eines der größten: das „Gin Festival Edinburgh“, das jedes Jahr im Oktober stattfindet.
Für Feinschmecker
Gin71, Glasgow
Stilvolle Serve-at-Table-Bar im Herzen Glasgows. Auf der Karte, die zwei Mal jährlich überarbeitet wird: mehr als 70 Gins und 28 Tonics und andere Mixer.
71 Renfield St, Glasgow G2 1LP
56 North, Edinburgh
Food'n'Drink-Bar in Edinburgh – auch Frühstück und Brunch. Gut sortierte Gin-Karte – mit allein mehr als 80 schottischen Variationen.
2 W Crosscauseway, Edinburgh EH8 9JP
The Scottish Gin Trail
Für alle, die gleich einen ganzen Trip rund um das Wacholdergetränk planen möchten, hat die britische „Wine and Spirit Trade Association“ eine Karte mit den zwölf spannendsten Gin-Destillerien, -Bars und -Erlebnissen Schottlands zusammengestellt.